Mirnog behauptete er sei einer meiner Ahnen. Ich konnte dem weder etwas entgegensetzen, noch mich bewegen. Der rothaarige Hüne hockte auf meinem Bettrand und weihte mich in die Symbolsprache des Pfeiles ein: über die „Weltensäule“ und ihrer tragenden Rolle in der Existenz, über TYR den germanischen Gott der Gerechtigkeit, seinen Tod und darüber, dass er durch Odin ersetzt worden war. Flucht war unmöglich und ich wurde quasi einem nächtlichen Zwangsunterricht unterzogen, der mich erst aus Angst, mittlerweile aber aus Neugier fesselte.
Hier können Sie die erste Episoden nachlesen
„Du musst über Freiheit nachdenken, Wallkürchen! Frei sein kann eine Sippe nur, wenn sie die Gesetze einhält, sonst versinkt sie im Chaos. Im Chaos tust du nichts anderes, als dich zu verteidigen. Da ist niemand frei, denn die Seelenlosen werden immer versuchen, sich durchzusetzen. Deswegen ist der wahrhaft freie Mensch des TYR nicht frei, um Chaos anzurichten und alles zu tun, was die Triebe ihm diktieren. Menschen des TYR achten die göttliche Ordnung nicht aus blindem Gehorsam sondern aus Einsicht. Aus dem gleichen Grund achten sie die Freiheit des anderen – was bei den Seelenlosen anders ist. Deren Gott erlaubt ihnen alles und deswegen können Sie auf den ersten Blick ihren Willen besser durchsetzen.
„Das ist aber ungerecht!“ begehrte ich auf!
„TYR ist tot!“ antwortete Mirnog trocken.
„Aber wie kann das sein? Wie kann ein Gott sterben? Und wieso wird ein Gott ersetzt? Was soll das Ganze? Wozu ist das gut?“
„Ist ja gut Wallkürchen, eins nach dem anderen.“
Hatte ich schon erwähnt, dass ich mit meinen 60 Jahren nicht gerne „Wallkürchen“ genannt werde?
„Lach nicht!“ herrschte ich ihn gedanklich an und schrak zurück. Mein gedankliches Schimpfen brachte zwar nicht die Wände, wohl aber mein Bett zum Beben. Ich war beeindruckt von der Wirkung meiner Gedanken.
Aber sie waren lächerlich im Vergleich zu dem WandBeben, das das Lachen erzeugte, mit dem er meine Empörung beantwortet. Ich wurde wütend.
„Du… Du… Mirnog!“ funkelte ich.
„Existierte TYR für dich vor dieser Nacht?“
„Nein, ich wusste ja nichts von IHM!“
„So tötet man Götter – man zerstört ihr Andenken. An die Götter, die du nicht kennst, kannst du nicht glauben.
Ich schwieg betroffen.
„Lass mich weiter erzählen, wir haben noch wichtiges vor in dieser Nacht!“ antwortete er beschwichtigend.
„Was ist momentan verboten und was schadet den Menschen gerade am meisten?“ Fragte er orakelnd.
Ich zuckte die Schultern.
„Versammlungen sind verboten. Egal ob Messen, Events, Parties, Feiern, alles wird verboten. TYR war der Gott der Versammlung der Götter, damals „the thing“ genannt. Geselligkeit bei Versammlungen war den Vorfahren der Germanen schon wichtig, um sich abzustimmen, in Einklang zu kommen, sich zu einen und zu einigen. Schon damals, vor vielen tausend Jahren spielte das, was Ihr heute „Demokratie“ nennt eine große Rolle bei den alten Stämmen. Es wurde in Gruppen diskutiert und debattiert, um die besten Lösungen zu finden. Wenn das heute verboten wird, so geht das nur, weil TYR tot ist!“
Ich war bestürzt.
Der Krieg gegen die Demokratie war unübersehbar. Konnte das wirklich mit dem Tod eines prähistorischen Gottes zu tun haben, den niemand mehr kannte?
„WEIL ihn niemand mehr kennt, betet niemand zu ihm und gedenkt seiner Bedeutung!“ Mirnog sah stirnrunzelnd zu Boden. „Die exaltierten Geschichten über Odin waren spannender als der nachdenkliche, berechenbare TYR. Odin hatte angeblich über 100 Namen. Aber in Wirklichkeit kamen die Geschichtsschreiber nicht mehr nach mit all den Phatastereien der Mächtigen. Sie überschlugen sich vor Kreativität, wenn man das so nennen will. Er konnte angeblich alles, stand für alles und war ein gigantomanisches … Er trug die Handschrift seiner Erfinder und durch die Geschichten über ihn wurde die Geschichte der Germanischen Stämme verändert. Sie zerstörten die echten Überlieferungen und damit unsere Geschichte.“
Mirnog brach ab.
„TYR war der Gott des göttlichen Ordnung und damit auch der Natur- und Menschenrechte. Als Beschützer des Thing garantierte er eine basisdemokratische und weitestgehend tolerante Gesellschaft der germanischen Stämme. Schließlich waren wir viele verschiedene Stämme und sehr unterschiedlich. Es war Arbeit, alle unter einen Hut zu bekommen. TYR war tapfer, mutig und treu und besänftigte das gierige, gefräßige Fenrismonster, indem er ihm seine rechte Hand opferte. Damit sicherte er das Überleben der Gemeinschaft, die sich gerade zu einem Thing versammelt hatte. ER verhinderte, dass die Gemeinschaft gefährdet oder in die Irre geführt wurde. Aber er war keiner, über den euer heutiges Hollywood einen Film drehen würde.“
Ich dachte über unsere in die Irre geführte, sensationssüchtige und gleichzeitig so gestresste und verstörte Bevölkerung nach.
Es war richtig – in gewisser Weise verlangte die Gesellschaft die Kicks, unter denen sie dann litt.
Ja, TYR musste tot sein, keine Frage. Mir wurde kalt.
„Und was ist mit Odin?“
„Wallkürchen, den gab es nie wirklich! Er war eine Erfindung der Seelenlosen. Eine Kunstfigur nennt man das. Sie verkauft sich gut. Bis heute. Aber Odin bringt die Menschen durch seine erschreckende Unberechenbarkeit in den blindem Gehorsam, während TYR ihre Einsicht fördert. “
„Das darf doch nicht wahr sein!“
Mirnog sah mich beruhigend an. „Es noch nicht aller Tage Abend, Wallkürchen. Aber es wird Zeit, dass du TYR anerkennst, damit etwas heilen kann. Der Dienstag ist nach ihm benannt. (Tuesday, Tirstag) vielleicht denkst du ab und zu mal dran.“
Ich war mir sicher, dass ich ab sofort jeden Dienstag an TYR und diese denkwürdige Nacht denken würde.
Mich ließen die Gedanken, die Mirnog mir gab jetzt schon nicht mehr los.
„Die Eiche ist sein Baum.“
„Ui, jetzt wird es aber deutsch!“
„Teutsch“
„Hä?“
„Noch um 1920 nannte man die Deutschen die „Teutschen“, das bedeutet im übertragenen Sinne: die Menschen des „Teut“, eine Abwandlung des TYR.“
Das wurde ja immer abenteuerlicher
Mirnog ignorierte mich geflissentlich.
„Früher wurden die Türen oft aus Eichenholz gemacht und so wurde TYR zur Tür. Solange jemand die Symbolsprache versteht, kann sein Andenken nicht ganz verschwinden. ER ist überall, wo ein Ausgang oder Übergang benötigt wird. ER, der für die Göttliche Ordnung steht ist der Durchgang zur Guten Welt.“
Alle Soulfit CDs trugen auf ihrem Cover eine Türe. Ich begann und beendete meine Trancereisen oft mit Durchschreiten einer Türe, die in einer andere Welt führte: in die Anderswelt, die Welt der Phantasie.
Mirnog grinste.
„Ja, etwas in dir hat TYR tatsächlich immer schon ein Denkmal gesetzt.“
Ich freute mich darüber, dass mein Unbewusstes etwas Gutes für den Gott der Gerechtigkeit getan hatte – auch wenn meine Ratio bis dato keine Ahnung von seiner Existenz gehabt hatte.
Und all das steckt in der Symbolsprache zu einem Pfeil?
Mirnog hielt mir den Holzpfeil vor die Nase und ich montierte meine rechte Hand mühevoll aus dem betonartigen Lähmungszustand.
Nicht ohne Anstrengung, aber um so ehrfürchtiger nahm ich den Holzpfeil an.
Trocken und warm lag das Holz in meiner Hand.
„Lass uns weiter über Runen reden, Wallkürchen.“
Schon wieder…
„Hör zu! Runen sind die alten germanischen Buchstaben. Das Wort Runen kommt von „Raunen“, denn jede einzelne Rune hat eine tiefe Bedeutung, mit der man sich befassen muss. Die Rune, die aussieht wie ein Pfeil, der nach oben zeigt, heißt Tiwaz und ist die Rune des TYR. Er bracht das Schreiben zu den Menschen und nicht Odin, der erst erst viel später erschien. Einen Teil dessen, was dieses Zeichen bedeutet, hast du ja nun schon gehört. Aber wir sind noch nicht am Ende.
TYR hatte, wie gesagt, seine rechte Hand geopfert. Das gefräßige Wolfsungeheuer Fernris musste abgelenkt werden, damit es gefesselt werden konnte. Sonst hätte es die gesamte Sippe gefressen. TYR hielt ihm seine Hand ins Maul und das Ungeheuer fraß seine Hand ab. Doch dieser Moment reichte, um das Ungetüm zu fesseln und es unschädlich zu machen. TYR konnte Gott sei Dank mit dem linken Arm ebenso gut kämpfen, wie mit dem Rechten und so kam es ihm sogar zugute, dass er den rechten Arm geopfert hatte. Seine hellsichtigen, magischen und rechts-hemisphärischen Fähigkeiten kamen dadurch zum Vorschein und der sanfte Teil seines Geistes verlieh ihm eine noch größere Macht als bisher.
Wenn also beim Runenwerfen die Rune Tiwaz in deinen Raum tritt, dann bedeutet das, dass die Eigenschaften des TYR berücksichtigt werden müssen. Durch die Bereitschaft zu opfern, kannst du Sieg und Erfolg erringen. Recht und Ordnung müssen erkämpft werden und gleichzeitig musst du für die Bedürftigen da sein, wenn Sie deine Hilfe benötigen.Tiwaz führt uns wie der Polarstern auf den richtigen Weg und sorgt dafür, dass uns die Nebel der Lüge niemals die Weitsicht trüben und uns auf Irrwege umleiten. Die Rune Tiwaz wurde in meiner Zeit in die Schwerter eingeritzt. Du musst lernen, an eine gute Sache zu glauben, um sie so zu stärken. Für eine gerechte Sache kommt die Magie deines Herzen zum Einsatz und dann ist Tiwaz die Rune, mit deren Kraft und Hilfe das Unterfangen realisiert werden kann…
Es sei denn…..“
„Es sei denn was?“ Mirnogs Schweigen beunruhigte mich.
„Es sei denn, die Rune Tiwaz steht auf dem Kopf. Dann ist das gar nicht gut…“
Typisch für Symbolsprache geht es eigentlich nur um ein einziges kleines Zeichen. Aber um den Symbolgehalt voll und ganz zu verstehen muss man einige Seiten mit Worten füllen. Es folgten weiterer Erkenntnisgewinne, die jedoch einigermassen beunruhigend war.
Deswegen reicht das hier erst mal und wir gehen das nächste Mal frisch und munter an die Sache heran.
Insofern wünsche ich viel Spass beim Verdauen.
Bald geht es weiter in diesem nächtlichen Theater mit Mirnog.
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Damit Sie sich nicht langweilen, hier ein weiteres Beispiel dafür, dass die Geschichte, an deren Wahrheitsgehalt wir glauben, vielleicht nicht so wahr ist, wie wir immer denken. Ich weiß nicht, wie wahr das ist, was in diesem Video gesagt und gezeigt wird. Ich halte es nur für wichtig, niemals zu glauben, dass man alles weiß, nur weil es irgendwo geschrieben steht. Unser Glaube ist eine starke Macht und deswegen wird mit unserem Glauben seit Menschengedenken Schindluder getrieben. Wissen können wir nur, was wir selbst erlebt und erfahren haben. Alles andere kann Übertragungsfehlern unterliegen und ist nichts weiter als Glaube – manchmal betrüblicherweise Glaube an das Falsche.
In diesem Sinne: viel Spass beim Hinterfragen.